„Sich Zeit nehmen, ist das Wichtigste“
Herausforderungen für Caritas-Mitarbeitende nach der Flut
20.12.2021 | Monate nach der Flut im Ahrtal ist klar: Der Wiederaufbau wird dauern. Auch klar ist,
dass es Fachkräfte braucht, die den Betroffenen mit langem Atem und viel Leidenschaft zur Seite
stehen. Fluthilfe-Koordinatorin Silvia Plum und Fachbereichsleiterin Christiane Böttcher im
Gespräch.
Nachdruck aus „über leben. — Das Magazin von Caritas international“ 04|2021
Das Gespräch führte Stefanie Santo
Monate sind vergangen, seit das Wasser durch Ahrweiler floss. Welche Fragen hören Sie am
häufigsten?
SILVIA PLUM: Die erste Frage dreht sich meistens ums Geld: Wie komme ich an finanzielle Unter-
stützung? Aber oft merken wir, dass dieses Thema nur vorgeschoben ist und es eigentlich um
andere existenzielle Themen geht. Die Menschen kommen langsam aus der Phase des
Funktionieren-Müssens heraus und beginnen sich grundsätzliche Gedanken zu machen: Schaffe
ich den Wiederaufbau? Habe ich genügend Mittel zur Verfügung? Will ich überhaupt bleiben? Sie
müssen wissen: Die komplette Infrastruktur hier ist kaputt! Über eine riesige Fläche gibt es kein
Lädchen, kein Café, kein Restaurant mehr, oft nicht einmal eine Schule. Da muss man sich als
Familie oder älterer Mensch die Frage stellen: Können und wollen wir das in den nächsten fünf
Jahren mittragen? Solange wird es wohl dauern, bis das meiste wieder aufgebaut ist.
CHRISTIANE BÖTTCHER: Manche Menschen haben auch einfach große Angst und wollen nicht
mehr so nah am Wasser leben. Das war immerhin schon das zweite große Hochwasser seit 2016.
Heute hat es wieder geregnet, und das macht etwas mit den Menschen. Auch wenn es nur leicht
regnet, entsteht gleich eine Unruhe.
Das sind große Fragen, die die Menschen an Sie richten. Was antworten Sie?
PLUM: Die Fragen nach finanzieller Hilfe sind gut zu beantworten. Es gibt einen klaren Ablauf,
den wir den Menschen vermitteln können. Dafür haben wir Infoflyer entwickelt, auf denen wir die
zuständigen Anlaufstellen aufgelistet haben, natürlich auch uns als Caritas. Die Zukunftsfragen
wiegen schwerer. Da sehe ich uns als Caritas-Mitarbeitende in der Pflicht, mit den Betroffenen
abzuwägen, ob das hier noch ein guter Wohnort für sie ist. Das zu entscheiden, braucht Ruhe und
Zeit. Deshalb das Angebot: Wollen wir uns nächste Woche wieder hier im Beratungscontainer
treffen? Oder soll ich zu Ihnen nach Hause kommen? Dass wir uns für die Menschen Zeit
nehmen, ist gerade das Allerwichtigste.
Bei Caritas international sind rund 45 Millionen Euro an Spenden für die Betroffenen der Flut
eingegangen. Wie kommt die Caritas Ahrweiler an das Geld?
BÖTTCHER: Die Spenden werden von Caritas international über den Diözesan-Caritasverband
Trier zu den Ortsverbänden der Caritas Trier, Westeifel und zu uns nach Ahrweiler geleitet. Die
Soforthilfegelder, die wir auf diesem Weg bekommen haben, konnten wir sehr schnell auszahlen,
das waren 200 Euro pro Haushalt. Hier haben wir über 1.600 Haushalte versorgt. Für die Haus-
haltsbeihilfen stehen uns erneut Gelder zur Verfügung. Dafür haben wir auch bereits rund 640
Anfragen vorliegen. Die müssen wir nun prüfen, denn einige Menschen haben auch schon bei
anderen Wohlfahrtsverbänden oder Hilfsorganisationen Unterstützung beantragt und genehmigt
bekommen. Die nehmen wir dann heraus. Wir prüfen die Anträge sehr individuell: Was konnte
noch nicht wiederbeschafft werden, und was braucht es dringend?
PLUM: Heizungen sind natürlich ein großes Thema. Wir haben ältere Menschen, die jetzt aus der
Kurzzeitpflege zurückkommen und eine warme Wohnung brauchen. Oft geht es auch um
Mobilität: Der öffentliche Nahverkehr ist immer noch eingeschränkt, weil ja auch die Bahntrasse
zerstört wurde. Mancher braucht jetzt ein Fahrrad, um zur Arbeit zu kommen.
BÖTTCHER: Kurz nach der Katastrophe haben wir Bautrockner ausgegeben, die von Caritas
international 2013 angeschafft worden sind, als Dresden und Teile von Tschechien unter Wasser
standen. Und wir haben Heizöfchen und Wasserkocher verteilt – Kleinigkeiten, die in der aktuellen
Lage eine große Wirkung haben.
Wohin gehen die Spenden? Die Spenden werden anteilig den Diözesan-Caritasverbänden in
Trier, Aachen, Paderborn, Essen und Köln bereitgestellt. Von dort werden sie an die Orts-
caritasverbände weitergeleitet.
Was ist mittel- und langfristig geplant?
PLUM: Bei der Caritas dreht es sich ja nicht in erster Linie um finanzielle Hilfen, sondern um eine
breit aufgestellte psychosoziale Arbeit, also wirklich zu schauen: Was braucht der Mensch? Da
geht es zum Beispiel darum, zu erkennen, wann Beratung nicht mehr ausreicht und es in
Richtung Traumatherapie gehen sollte. Oder die Menschen aufzuklären, wie die Psyche auf
katastrophale Ereignisse reagiert. Und dass es durchaus normal ist, dass man, sobald etwas
Ruhe eingekehrt ist, erst einmal in ein tiefes Loch fällt. Da geht es darum, ältere Menschen bei der
Antragstellung zu begleiten. Wichtig ist auch, dass wir uns ständig vernetzen und neue Infor-
mationen einholen: Wo sind die Jobcenter wieder geöffnet? Wer bietet gerade Schuldnerberatung
an? Wo finden wieder Aktivitäten für Kinder und Senioren statt? Auf längere Sicht wird es schwer-
punktmäßig darum gehen, Sozialräume wiederzubeleben. Dafür werden wir einen großen Teil der
Spenden nutzen.
BÖTTCHER: Ein schönes Beispiel sind unsere Cafés: Das Café „Sich aus dem Staub machen“ ist
ein Treffpunkt für ältere Menschen, die dort eine kleine Auszeit nehmen können, um mal etwas
anderes zu sehen als zerstörte Straßen und Häuser. Und das „Gestrandeten-Café“ in Adenau ist
ein Anlaufpunkt für diejenigen, die in Ferienwohnungen untergekommen sind und neue Kontakte
suchen.
Viele Mitarbeitende der Caritas leben selbst im Ahrtal. Wie hält man diese Doppelbelastung aus?
BÖTTCHER: Rund die Hälfte unserer Mitarbeitenden ist selbst betroffen. In einem meiner Teams
sind es sogar vier von vier: Eine Kollegin hatte das Wasser nur im Keller, aber die anderen haben
zum Teil ihre Nachbarn sterben hören. Und obwohl sie Todesängste ausgestanden hatten, haben
die Kolleginnen sehr schnell versucht wieder handlungsfähig zu werden, um den Betroffenen hier
im Ahrtal zur Seite zu stehen.
PLUM: Die Belastung ist nicht zu unterschätzen. Wir wissen jetzt schon, dass das Ganze sehr
lange Zeit dauern wird. Das ist eine neue Herausforderung, mit den Kräften hauszuhalten. Wir
nehmen uns Raum, um zu reden. Und ab und zu muss man auch mal raus, damit einem nicht die
Puste ausgeht.
Was motiviert Sie durchzuhalten?
PLUM: Das sind die kleinen Geschichten: Ich habe zum Beispiel einen Klienten, der 84 Jahre alt
ist und dessen Haus komplett unter Wasser stand. Ihn habe ich gefragt: Was halten Sie davon,
wenn wir als Caritas während des ganzen Antragsverfahrens an ihrer Seite bleiben? Da hat er
geschluckt und gefragt: „Warum brauchen die Caritas-Frauen keine Beine und keine Füße? Na,
weil sie Engel sind!“ Das gibt mir die Kraft weiterzumachen.
CHRISTIANE BÖTTCHER ist Fachbereichsleiterin „Familienunterstützende Dienste“
der Caritas Bad Neuenahr-Ahrweiler.
SILVIA PLUM ist Flutkoordinatorin der Caritas in Bad Neuenahr-Ahrweiler
und viel „auf der Fläche“ unterwegs.